„Boyhood“: Experimentelles Kino-Erlebnis mit starken Rollen

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„Boyhood“: Experimentelles Kino-Erlebnis mit starken Rollen

Mit seinem neuen Film hat Regisseur Richard Linklater ein einzigartiges Langzeitprojekt verwirklicht: Die Dreharbeiten dauerten zwölf Jahre. In dieser Zeitspanne erzählt "Boyhood" die Geschichte des jungen Mason - von der Grundschule bis zum College.

In seinem neuen Film „Boyhood“ erzählt der US-amerikanische Regisseur Richard Linklater (53, „Before Sunrise“) ein ganzes Leben. Und zwar das des anfangs kleinen Jungen Mason. So normal wie der Charakter ist auch die Story des Films. Es gibt keine außergewöhnlichen Verstrickungen oder Kitsch-beladene Liebes-Szenen. Das wirklich Einmalige und Experimentelle an „Boyhood“ ist, dass Linklater seine Schauspieler – allen voran Hauptdarsteller Ellar Coltrane (19, „Fast Food Nation“) – ganze zwölf Jahre lang begleitet hat. Er drehte den Film von 2002 bis 2014. Immer wieder wurden Szenen mit den Darstellern gedreht, unter Ihnen auch Ethan Hawke (43), der schon in Linklaters Beziehungs-Trilogie „Before Sunrise“, „Before Sunset“ und „Before Midnight“ mitspielte.

Die Zeit-Spanne des Films reicht von der Grundschule bis zum College-Eintritt der Hauptfigur. Die Geschichte beginnt mit einem sechsjährigen Mason (Coltrane), der zusammen mit seiner etwas älteren Schwester (gespielt von Linklaters Tochter Lorelei Linklater) bei der Mutter (Patricia Arquette) in Texas aufwächst. Ihren Vater (Hawke) sehen die beiden Kinder nicht allzu häufig. Er ist der sympathisch verplante Wochenend-Vater, der seine Kinder zum Bowling abholt und ihnen beim Essen fix die Gefahren des Irak-Kriegs erklärt. Die Mutter hat das Problem, dass sie immer wieder an die falschen Männer gerät – vorzugsweise mit Alkohol-Problem. In dem knapp dreistündigen Film werden den Kindern drei verschiedene Männer vorgesetzt, Mason wechselt dreimal den Haarschnitt und zieht zweimal um. Am Ende ist er 18 Jahre alt und beginnt das College. Das ist eigentlich schon der ganze Film. Nicht ganz.

Denn die Story, die Linklater uns vorsetzt, wird mit so viel Einfühlsamkeit, Sensibilität und filmischen Enthusiasmus erzählt, dass man am Ende nicht nur Zuschauer, sonder mittendrin war. Absolut umwerfend ist Hauptdarsteller Coltrane, der die Rolle des Mason mit subtiler Leichtigkeit und angenehm unaufgeregt spielt. Anfangs ist er ein netter, gewöhnlicher Junge. Im Laufe seiner Jugend entdeckt Mason seine kreative Seite: Er steht auf „Urban Art“ und fotografiert sehr gerne. Der kleine Rebell wird ein intelligenter junger Mann.

Und nicht nur an der Entwicklung seiner Rolle darf der Zuschauer teilnehmen, auch die des Schauspielers Coltrane ist interessant: ist er doch am Anfang ein niedlicher Pausbacken-Bub und am Ende ein hagerer, großgewachsener Jüngling. Auch Ethan Hawke, der zu Beginn der Dreharbeiten noch junge 32 Jahre alt ist, scheint seine Rolle des chaotischen Vaters wie auf den Leib geschneidert. Er ist der liebende, stets bemühte Vater, der aber selber noch ein Kind ist. Im Film wird auch er erwachsen.

Boyhood“ verpackt wunderbar, äußerst charmant und stellenweise sehr nüchtern die Freuden und Leiden der Kindheit und des Älter-Werdens. Doch normal heißt hier nicht langweilig oder durchschnittlich: Eine schwierige Phase im Film stellt die Ehe der Mutter mit ihrem College-Professor dar. Der entwickelt sich vom anfänglich netten Stiefvater zum alkoholabhängigen Patriarchen, der Frau und Kinder zu unterdrücken vermag. Niemals jedoch wird die Story zu schwermütig: Linklater schafft es, mit viel Ironie, Sarkasmus und Witz die Coming-Off-Age-Geschichte unangestrengt zu erzählen – was er nicht zuletzt seinen vier Hauptdarstellern zu verdanken hat. Der Spagat zwischen ernsten Gesprächen und netter Unterhaltung ist gut gelungen.

Außerdem thematisiert der Film auch unterschiedliche gesellschaftliche Belange und setzt ein klares politisches Statement. Unter dem Einfluss des Vaters opfern die Geschwister beispielsweise ihre Freizeit, um für Barack Obama im Wahlkampf Klinken putzen zu gehen. Außerdem vereinen die verschiedenen Verwandtschafts-Verhältnisse in Masons Familie herrlich den Gegensatz von amerikanischem Konservatismus und moderner Alternativ-Attitüde. Und ganz nebenbei bemerkt, kann sich der Soundtrack des Films „hören“ lassen: Bands wie Vampire Weekend, The Hives, The Black Keys oder die Kings of Leon liefern musikalische Untermalung vom Feinsten. Allein zum Ende hin könnte man bemängeln, dass der Film sich in seiner Länge und den immer philosophischer werdenden Gesprächen etwas zieht.

Fazit: „Boyhood“ ist in Zeiten von rasanten Action-Thrillern oder überladenen Film-Romanzen ein absolut sehenswerter Film. Das angenehm unangestrengte – aber auch lange – Kino-Erlebnis eignet sich für Liebhaber von starken Rollen und tiefgehender Unterhaltung. Der Film ist ein einziges cineastisches Experiment, so normal, echt und oft auch bitter wie das Leben selbst. Eine Geschichte ohne Kitsch, mit wenig „Amerika“ dafür umso mehr Authentizität.